Lesen, was man nicht kennt

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Niemand ist davor gefeit: In der digitalen Filterblase merkst Du nicht mehr, was außerhalb Deiner Kreise vor sich geht. In Berlin wie in Koblenz gibt es nur ein Mittel dagegen: Diversifikation beim Lesen. Wie liest man, was man nicht kennt?


Foto: @fahrulazmi

Foto: @fahrulazmi

Die Augen offen­hal­ten, raus­ge­hen, mit den Leu­ten spre­chen. So galt es frü­her vor allem im Lokal­jour­na­lis­mus. Heu­te kom­men die Leu­te von drau­ßen rein, direkt aufs Han­dy oder auf grö­ße­re Schir­me. Gequatscht wird dann eben­falls, wenn auch anders. Gestan­de­ne Bezie­hun­gen ver­ab­re­den sich Hun­der­te von Kilo­me­tern von­ein­an­der ent­fernt zum „gemein­sa­men“ Net­flix-Gucken (nicht wahr, S.?), star­ten auf die Sekun­de genau zeit­gleich den Film der Wahl – und tau­schen sich dann im trau­ten Whats­App-Chat über das Bild­schirm­ge­sche­hen aus. Es gibt die­se Sehn­sucht nach Gemein­schafts­er­leb­nis­sen, im end­lo­sen Digi­ta­len erst recht. Net­flix­par­ty und Rab­bit hei­ßen zwei Werk­zeu­ge, um das in Sachen gemein­sa­mes Glot­ze­gu­cken noch ein biss­chen auf die Sekun­de genau­er zu machen.

Davon zeu­gen auch die Hash­tags. Ob #ltwby18 und #ltwby für poli­tisch Inter­es­sier­te zur Land­tags­wahl Bay­ern, #DHDL zum abend­li­chen Kamin­feu­er namens Star­tup­be­wer­tung oder #Rolex für ein Sta­di­on Empör­ter über ein Sta­di­um klein­geis­ti­ger und nei­di­scher Empö­rung: Hash­tags sind aufs Bemer­ken ver­meint­li­cher Strö­mun­gen aus und ver­stär­ken doch gele­gent­lich nur auf­merk­sam­keits­star­ke Extre­me. Beson­ders in Krei­sen von Jour­na­lis­ten und Politikern.

Sich zu ver­net­zen und neue Gemein­schaf­ten zu bil­den, das beför­dern so auch Face­book, Insta­gram und Twit­ter. Das ist, gepaart mit klein­tei­ligs­ter Wer­bung, ihr Geschäfts­mo­dell. Deren Fil­ter spü­len bevor­zugt jene Bei­trä­ge ande­rer in die eige­ne Time­line, mit denen man inter­agiert hat. Wenn dann eine Face­book­sei­te wie „Unnüt­zes Han­no­ver­wis­sen“ mit einem ganz merk­wür­di­gen psy­cho­lo­gi­schen Mecha­nis­mus die­se Sehn­sucht nach Gemein­schaft trig­gert, mar­kie­ren sich da mal eben in 200 Kom­men­ta­ren die Leser gegen­sei­tig, und der Bei­trag erreicht nicht weni­ger als 19.300 Leser nach der Facebookzählweise.

Mas­sen­haft vor­ge­nom­men, beför­dern uns die­se Mecha­nis­men in Fil­ter­bla­sen. Erfun­den wur­de der Begriff bereits 2011 von Eli Pari­ser. In die­sen Echo­kam­mern sehen wir nur noch das, was wir gut fin­den und unter­stüt­zen, inter­es­sant fin­den, nicht mehr die Gegen­sei­te oder schlicht ande­re Mei­nun­gen. Gemocht habe ich die­sen Begriff nie, denn als Jour­na­list meinst Du natür­lich, stän­dig die Augen offen zu hal­ten. Das nützt nur nichts bei den sozia­len Medi­en, denn tat­säch­lich ist das Pro­blem an den Fil­tern, dass Du sie nicht siehst.

Und dann pas­siert das, wenn die Leu­te nur noch gefil­tert bei Dir rein­kom­men. Erkennt­nis­se einer klei­nen Umfra­ge am hei­mi­schen Küchen­tisch mit zwei Teenagern:

  • Plötz­lich bekommst Du nicht mehr mit, war­um ein Insta­gram-Account namens „Mein Beicht­stuhl“ 2,5 Mil­lio­nen Fol­lower hat.
  • Du erfährst nicht, war­um ein Poke­mon Go Song Mil­lio­nen Abru­fe erfährt.
  • Der Erfolg von „Gali­leo“ auf Pro 7 geht an Dir vor­bei, aber für man­che ist das For­mat auf You­Tube ihre stän­di­ge Tagesschau.
  • Tanz­ver­bot sagt Dir was?
  • Mesut Özils kräf­ti­ges State­ment zur Halb­zeit­pau­se eines Deutsch­land-Spiels kannst Du sofort zuord­nen, obwohl kein Sport­teil und auch Elf Freun­de online damit nicht auf­mach­te? 500.000 Nut­zer waren noch am glei­chen Abend zumin­dest kurz­zei­tig dabei auf Twitch.
  • Den Rob­be­trend von Bam kannst Du auf die Schnel­le nachmachen?

Ver­mut­lich ist der Rob­be­trend so wich­tig oder unwich­tig wie Özils Gebal­ler und See­ho­fers nächs­te Pres­se­kon­fe­renz oder App­les Anstieg sei­ner Aktie um 2,20 Pro­zent über­mor­gen. Für irgend­wen sind die­se Din­ge wich­tig. Für vie­le nicht.

Wie man trotz­dem davon erfährt und sie für sich ein­ord­net, wird durchs Inter­net nicht ein­fa­cher, eher schwie­ri­ger, weil kom­ple­xer. Seit zwei Tagen hat mir der Face­book-Algo­rith­mus nur noch, und ich sage: nur noch im Sin­ne von aus­schließ­lich, Mel­dun­gen von Medi­en in die Time­line gespült. Rhein-Zei­tung, Ber­li­ner Mor­gen­post, die Mor­gen­post Rei­ni­cken­dorf, Spie­gel Online, nichts ande­res. Als wären alle Pri­vat-Accounts von Bekann­ten verstummt.

Kei­ne Ahnung, wie man das wie­der nor­ma­li­siert, aber was ist schon nor­mal: Bis vor­ges­tern habe ich auf Face­book seit Jah­ren kei­ne Medi­en­mel­dun­gen ange­zeigt bekom­men, ich habe dort wohl zu vie­len gefolgt; ange­zeigt wur­den mir nur Pri­vat­ac­counts, außer von jenen Medi­en, die ich expli­zit per vor­ge­nom­me­ner Ein­stel­lung an ers­ter Stel­le sehen woll­te. Wie ich das bei Face­book wie­der diver­si­fi­zie­ren kann, weiß ich auch noch nicht.

Dabei ist klei­ne Gemein­schaf­ten zu bil­den immer der Anfang von etwas grö­ße­rem – vor­aus­ge­setzt, es geschieht mit einer bestän­di­gen Ver­trau­ens­ba­sis. Des­we­gen hat auf Dau­er wahr­schein­lich neben​an​.de ein grö­ße­res Poten­zi­al als Face­book. 4500 Nach­barn haben sich da in mei­nem Kiez in mei­nem bis­he­ri­gen Zweit­wohn­ort in Ber­lin ver­netzt, auf­ge­nom­men wird man nur per zuge­sand­ter über­prü­fen­der Post­kar­te, ob die ange­ge­be­ne Adres­se stimmt.

Anschlie­ßend lädt eine Nach­ba­rin zum gemein­sa­men Ernäh­rungs­abend Vegan–Vegetarisch–Ayurvedisch ein, ein ande­rer zum Beton­scha­len­work­shop, und ein drit­ter ver­schenkt mir sei­nen Fern­seh­ses­sel. Das alles mag über Face­book und Co. auch gehen, aber der Ver­trau­ens­bo­nus ist dank der Post­kar­ten­über­prü­fung ein deut­sches Hoch­haus grö­ßer. Es mögen da nicht weni­ger Trol­le und Idio­ten unter­wegs sein. Aber am Ende fin­det man so immer­hin etwas ein­fa­cher die fünf, sechs Leu­te für den Dop­pel­kopf­stamm­tisch. So gesche­hen in der zwei­ten Heimat.

Die klei­nen Gemein­sam­kei­ten tref­fen auch auf mei­nen News­let­ter zu: Ich freue mich über 60 Inter­es­sier­te. Klar sind das vie­le Jour­na­lis­ten aus mei­ner Fil­ter­bla­se, die ver­mut­lich zunächst ein­mal aus Neu­gier­de wei­ter­ver­fol­gen, was ich so trei­be. Wenn dann plötz­lich an einem Tag fünf, sechs neue Leser hin­zu­kom­men, war es auch wie­der eine die­ser vie­len klei­nen, aber hilf­rei­chen Bin­dun­gen, die das Netz aus­ma­chen: die Emp­feh­lung in einem ande­ren News­let­ter, der mir schon mal beim Auf­set­zen des eige­nen Let­ters mit Blick auf Daten­schutz­grund­ver­ord­nung und Impres­sum sehr hilf­reich war. Dan­ke, Fran­zis­ka Bluhm!

Aber eigent­lich ist das noch nicht radi­kal genug. Wie kann man denn wirk­lich die ande­ren lesen? Mir fehlt dafür noch eine Anlei­tung. Mögt ihr mir das ein­mal schreiben?