Der Primat des Pragmatischen

Avatar von Marcus Schwarze

Vor drei Wochen begann die vermutlich größte Krise unserer Generation. Das Virus verbreitete sich in der Welt, Firmen und Institutionen wurden geschlossen. Staaten sind im Lockdown. Und jetzt schrieb mir der Schulleiter des Gymnasiums der Kinder einen Elternbrief.

Ein fro­hes Oster­fest und erhol­sa­me Feri­en wünscht er uns. Lei­der weiß er auch nicht, wann es denn nun – und wie! – mit dem „Schul­be­trieb“ wei­ter­geht, und zur bes­se­ren Ver­an­schau­li­chung setzt er den „Schul­be­trieb“ in Anfüh­rungs­zei­chen. Alles wäre rein spe­ku­la­tiv. Man sol­le sich auf die Feri­en ein­las­sen und den wei­te­ren Gang der Din­ge so gedul­dig wie irgend mög­lich abwarten.

Abwar­ten?

Hun­dert­tau­sen­de haben in den ver­gan­ge­nen Wochen von heu­te auf mor­gen Home­of­fice und selt­sa­me Din­ge wie Mikro­fon-Muten, Pünkt­lich­keit und den andern aus­re­den las­sen gelernt. Klar ruckelt das am Anfang. Auch als neue Außen­stel­le der geschlos­se­nen Schu­le. Da ruft dann schon mal die Klas­sen­leh­re­rin den Vater der Klas­sen­spre­che­rin an, damit die­se in der Whats­App-Grup­pe die E‑Mail-Adres­sen der Mit­schü­ler ein­sam­melt – die Leh­re­rin selbst kann das ja nicht, Sie wis­sen schon: Datenschutz.

Dass die­sel­ben Schü­ler schon seit einem hal­ben Jahr­zehnt ihre Haus­auf­ga­ben und Lösun­gen per Whats­App tei­len, steht in einem ande­ren Thread.

Daten­schutz als Ver­neb­ler des Vernünftigen

Der Daten­schutz ist heu­te der Bru­der im Geis­te des Virus; er ist all­ge­gen­wär­tig und unsicht­bar. Glück­li­cher­wei­se ist der Daten­schutz auch viel weni­ger, er tötet nicht, jeden­falls noch nicht, nach allem, was ich weiß. Er ist aber auch noch mehr: Er ist Ver­hin­de­rer des Prag­ma­ti­schen und sein Gegen­teil. In der Kri­se ist er Ver­neb­ler des Vernünftigen.

Der Daten­schutz ver­hin­dert, dass erwach­se­ne Men­schen in einer Gehalts­klas­se über uns mei­net­we­gen mit Kra­wat­te über der Jog­ging­ho­se eine Video­kon­fe­renz ein­be­ru­fen und das Nahe­lie­gen­de unter­neh­men: die vor­han­de­ne Tech­nik ziel­füh­rend nutzen.

  • Eine gemein­sa­me Datei­ab­la­ge für die Haus­auf­ga­ben? – Die Drop­box ist nicht datenschutzkonform.
  • Ein gemein­sa­mer Kalen­der für die Schul­stun­den? – Ja, es gibt da eine App, aber die wird nur ille­gal von einem Leh­rer in sei­ner Frei­zeit gepflegt und nur einen Tag im voraus.
  • Ein­heit­li­che E‑Mail-Adres­sen für Leh­rer, Sekre­ta­ri­at, gar die Schü­ler? – Das Gym­na­si­um hat offi­zi­ell eine T‑On­line-Adres­se, Leh­ren­de sen­den ihre Auf­ga­ben mit ihren pri­va­ten GMX- und Web.de-Adressen.

Erstaunt lei­te ich die ach­te Mail mit Auf­ga­ben an den Nach­wuchs wei­ter, weil sie ent­we­der irr­tüm­lich oder absicht­lich an die Eltern ging statt an die eigent­li­chen Adres­sa­ten. Inter­es­siert über­flie­ge ich hier und da die Adres­sen der ande­ren Eltern, die wie mei­ne im CC-Feld für alle sicht­bar steht. Eigent­lich fehlt nur noch die nächs­te Mail von einem der Eltern, am bes­ten an alle, war­um man das nicht an die Schü­ler direkt schi­cken könne?

Vie­les ver­liert sei­nen Schrecken

Krass, wie der Appa­rat die Leh­re­rin­nen und Leh­rer allein lässt. Wie auch ein Schul­lei­ter nicht ein­fach als Kri­sen­ma­na­ger ein paar Din­ge in die Hand neh­men darf oder kann, als gäbe es mit Mood­le und Co. nicht bereits Lern­platt­for­men zum Orga­ni­sie­ren eines Schulbetriebs.

Ich durf­te an einer Hoch­schu­le mit Mood­le arbei­ten, das war zwar etwas umständ­lich, aber letzt­lich alles an sei­nem Platz. Wenn man in den Fir­men und Insti­tu­tio­nen mit Teams, Zoom, Asa­na, One­Dri­ve, Trel­lo und ande­ren ver­bo­te­nen Tools gear­bei­tet hat, ver­liert vie­les sei­nen Schre­cken. Es bleibt allein: der Schre­cken Datenschutz.

Statt­des­sen geht in der Schu­le also vie­les per Mail, immer­hin. Unter den Auf­ga­ben an den Nach­wuchs sind rich­tig tol­le. So gilt es, „Baby­lon Ber­lin“ in der Media­thek von ARD und ZDF zu fin­den und anzu­schau­en und in einem Auf­satz die gol­de­nen Zwan­zi­ger des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts zu cha­rak­te­ri­sie­ren. PDFs mit erkenn­ba­rer Lie­be zum Detail machen die Runde.

Eine vor­läu­fi­ge Umfra­ge unter drei Schü­le­rin­nen im Eltern­ta­xi zum Rei­ten ergab zu Beginn der Schul­schlie­ßun­gen, dass sich 100 Pro­zent der Befrag­ten aufs Home­schoo­ling freu­ten. Man müss­te weni­ger Gela­ber in der Schu­le ertra­gen, könn­te aus­schla­fen und in Jog­ging­ho­se die Auf­ga­ben erle­di­gen, das wür­de viel effektiver.

Drei Wochen spä­ter ergibt eine vor­läu­fi­ge Ein­schät­zung der Lage bei zwei Schü­lern fol­gen­des Lage­bild: Das mit dem Aus­schla­fen und der Jog­ging­ho­se ist zu 100 Pro­zent ein­ge­tre­ten. Das mit weni­ger Gela­ber hat nicht ganz so geklappt, aus den Kin­der­zim­mern ist nun von vor­mit­tags bis in den Abend Gequat­sche, Geläch­ter und Gejauch­ze ange­sichts diver­ser Erfol­ge, Sie­ge und Nie­der­la­gen in Grup­pen auf Dis­cord und Co. zu vernehmen.

Es mag nicht immer um Din­ge wie die drit­te Ablei­tung einer Cosi­nus­for­mel gehen oder die nega­ti­ve media­le Rezi­pi­enz der log­arith­mi­schen Dar­stel­lung einer Infek­ti­ons­kur­ve, aber was weiß ich schon. (Daten­schutz.)

Den Abga­be­schluss lernen

Dass aber auf einem Frei­tag oder Sams­tag auch um 21 Uhr noch Bio und Erd­kun­de erle­digt wer­den, der Abga­be­schluss naht schließ­lich zu unchrist­li­cher Zeit – das war vor Coro­na selten.

Selbst die ver­zwick­tes­te und grau­sams­te ethi­sche Fra­ge unse­rer Zeit, die auch eine Mar­got Käß­mann in einer Talk­show nicht beant­wor­ten kann, wird von Schü­lern anno März 2020 schon mal in einem vier­sei­ti­gen eng linier­ten Doku­ment hand­be­schrie­ben erör­tert, um 21.55 Uhr beim zustän­di­gen Eltern­teil mit dem Scan­ge­rät am Rech­ner auf den Weg gebracht, Abga­be­schluss ist um 22 Uhr: „Wie sol­len sich Ärz­te mit drei Beatmungs­ge­rä­ten und drei schwer erkrank­ten Pati­en­ten ver­hal­ten, wenn der vier­te Pati­ent her­ein­ge­scho­ben wird?“

Cha­peau, lie­be enga­gier­ten Leh­re­rin­nen und Lehrer.

So scan­ne ich also um 22.05 Uhr die vier Sei­ten ein. Wegen der Bequem­lich­keit nut­ze ich für den Mail­ver­sand an den Nach­wuchs eine die­ser umstrit­te­nen US-ame­ri­ka­ni­schen Clouds. Für die Ver­zö­ge­rung han­de­le ich mir einen Rüf­fel vom Nach­wuchs ein, es war halt wirk­lich inter­es­sant zu lesen. Und Zack, geht die Mail mit den sehr per­sön­li­chen ethi­schen Ansich­ten eines 17-Jäh­ri­gen über einen Ser­ver von Goog­le Mail ins Post­fach des Leh­rers bei GMX-T-Online-Webde-oder-was-weiß-ich.

Machen wir uns nichts vor: Ein Stück weit sind das auch Erfah­run­gen von Pri­vi­le­gier­ten, viel­leicht ein wenig ver­gnüg­lich in schlim­mer Zeit. Nicht jeder hat ein Lap­top oder Tablet zur Ver­fü­gung. In Haus­hal­ten mit meh­re­ren Kin­dern wird es eng und ange­spannt, wenn auch die Eltern gera­de Home­of­fice ler­nen. Und nach der drit­ten Video- oder Tele­fon­kon­fe­renz mit schwer ver­nehm­ba­ren Teil­neh­mern, absei­ti­gen Video­clips zur Unter­hal­tung und unkla­rer Tages­ord­nung ver­ste­he ich jeden Leh­rer, der sagt: Das Digi­ta­le ist anstrengend.

Der nord­rhein-west­fä­li­sche Minis­ter Lau­mann sag­te neu­lich: „Wer von den Minis­tern, die für Beschaf­fung zustän­dig sind, nach der Kri­se nicht den Lan­des­rech­nungs­hof am Arsch hat, der hat alles ver­kehrt gemacht.“ Da ging es um Mundschutzmasken.

Es gilt das Pri­mat des Pragmatischen.

Wer von den Leh­rern und Schul­lei­tern, die für Unter­richt zustän­dig sind, nach den Feri­en nicht den Lan­des­da­ten­schutz im Nacken hat, der hat alles ver­kehrt gemacht.

Mit den Wor­ten des Schul­lei­ters: Ich wür­de das abwarten.

P.S.: In einem rich­ti­gen Sowohl-als-auch-Kom­men­tar läsen Sie jetzt noch, war­um Daten­schutz natür­lich wich­tig ist, zumin­dest an der rich­ti­gen Stel­le und in der rich­ti­gen Dosie­rung. Der Pri­mat des Prag­ma­ti­schen aber sagt: Jetzt nicht, jeden­falls nicht hier, und wenn schon, dann als P.S. Fro­he Ostern!