Die Vermessung der Welt 2023

Avatar von Marcus Schwarze

„Connecting the dots“ heißt ein geflügeltes Wort, Entwicklungen zu einem neuen Ganzen zu verbinden. Apps, KIs und ein Nachfolger fürs iPhone deuten auf ein revolutionäres Medium – ab kommenden Montag.

App vermisst die Umgebung

Poly­cam heißt eine App, die die Welt neu ver­misst. Ver­misst im Sin­ne von ver­mes­sen, nicht ver­mis­sen. Auf dem Han­dy schwenkt man damit durch den Raum und sieht in Echt­zeit mehr und mehr Poly­go­ne wach­sen – Drei­ecke also, die die Maschi­ne auf jede Flä­che in einem drei­di­men­sio­na­len Raum legt. Und abspeichert.

Jedes Sofa, der Schrank, die Steh­lam­pe und die Zim­mer­pflan­ze wer­den dabei erfasst. Durch blo­ßes Umher­schwen­ken erkennt die App die soli­de­re Struk­tur hin­ter den Schrän­ken: Wän­de und Grund­ris­se, die Decken und Fuß­leis­ten, Türen und Fenster.

Am Ende ist die Woh­nung als per­fek­ter Grund­riss erfasst, und der Blick wan­dert in den Miet­ver­trag: Stand da nicht etwas von 77 Qua­drat­me­tern? Die App errech­net nur 61! Gut, da fehlt wohl ein Nebenraum.

Auf dem Han­dy lässt sich die Woh­nung nach fünf Minu­ten Arbeit vir­tu­ell betre­ten. Man kann sich umschau­en, wahl­wei­se in einer Archi­tek­tur-Sicht­wei­se oder mit den real auf­ge­nom­me­nen Beschaf­fen­hei­ten der Ober­flä­chen. Faszinierend.

App generiert Bilder aus Umgebungsdaten

Para­gra­phi­ca heißt der Pro­to­typ einer Kame­ra des Dänen Björn Kar­mann. Sie foto­gra­fiert nicht das Opti­sche, son­dern die im Netz vor­lie­gen­den Infor­ma­tio­nen über den Stand­ort – und gene­riert dabei mit künst­li­cher Intel­li­genz aus vor­ge­schla­ge­nen Prompt-Tex­ten wie­der­um fik­ti­ve Bil­der. Dabei spie­len neben der Adres­se das Wet­ter, die Tages­zeit und Orte in der Umge­bung eine Rol­le. Die Kame­ra erzeugt so ein­zig­ar­ti­ge Bil­der, wie ein Blick auf die stark über­lau­fe­ne Web­sei­te des Erfin­ders in Ams­ter­dam zeigt.

Nerd-Stoff. Aber weg­wei­send, wie das drit­te Bei­spiel zeigt.

Brille sieht und interpretiert solche Daten

Apple Rea­li­ty Pro soll eine neue Bril­le hei­ßen, die am Mon­tag vor­ge­stellt wird und im Grun­de die zwei Weni­ge-Euro-Apps und gewiss noch mehr mit Apple-Qua­li­tät ins per­sön­li­che Gesichts­feld ein­blen­det. Die Rede ist von einem Preis von 3.000 Dollar.

Wer schon mal mit Goog­le Maps auf dem Han­dy in einer frem­den Stadt als Fuß­gän­ger durch die Alt­stadt gelau­fen ist, kann sich den Effekt aus­ma­len: In das Live-Video wer­den vir­tu­el­le Navi­ga­ti­ons­pfei­le ein­ge­blen­det und die Namen von mar­kan­ten Gebäu­den, samt antipp­ba­rer Infos. Das kann durch­aus hilf­reich sein.

Aber 3.000 Dol­lar oder Euro für eine Bril­le? Die das nicht mehr auf dem Han­dy anzeigt, son­dern direkt vor den Augen?

Wir wer­den es erleben.

(Illus­tra­ti­on: Midjourney/Künstliche Intelligenz/Schwarze)

Neue Möglichkeiten

Über die Navi­ga­ti­on hin­aus gibt es dann womög­lich eine App, die nach einem Blick in den Kühl­schrank die Ein­kaufs­lis­te aktualisiert.

Die nach dem „Lesen“ der ers­ten Sei­te eines Buches eine kna­cki­ge Zusam­men­fas­sung anbietet.

Oder die nach dem Blick in den Spie­gel einen Fri­seur­be­such vor­schlägt oder einen Arzt­be­such zur Hautkrebsvorsorge.

Con­nec­ting the dots.

Oder wie wär’s mit einem Wahr­heits­fil­ter? Beim Lesen man­cher Tweets und Face­book­bei­trä­ge gibt es schon heu­te Ein­blen­dun­gen der Platt­for­men, dass ande­re Nut­zer wich­ti­ge wider­spre­chen­de Hin­wei­se zum Wahr­heits­ge­halt hin­zu­ge­fügt haben.

Eine Bril­le, die in Echt­zeit das gera­de Gese­he­ne oder Gele­se­ne oder Gehör­te ana­ly­siert, kann ver­mut­lich auch den nächs­ten Auf­tritt und die Vor­her­sa­gen von Richard David Precht bei Lanz im Fern­se­hen auseinandernehmen.

Umgang mit dem Vielmehr an Informationen

Wie wir mit die­sem Viel und Viel­mehr an Infor­ma­tio­nen umge­hen und umzu­ge­hen ler­nen, ist eine ande­re Fra­ge. Faken­ews mögen auf den sozia­len Netz­wer­ken viral gehen und von seriö­sen Medi­en mitt­ler­wei­le schnel­le ent­larvt werden.

In ein Bild der Rea­li­tät ein­ge­blen­de­te Infos auf der Bril­le dürf­ten dage­gen weit mehr Über­zeu­gungs­kraft erzeu­gen – da steht ja nicht nur, dass es dort einen Bank­au­to­ma­ten gibt, der ist sogar sicht­bar. Aber ist er von einem seriö­sen Anbie­ter? Oder von einem Internetbetrüger?

Die Fra­ge wird auch sein, ob es Apple gelingt, die Bril­le im All­tag ver­schwin­den zu las­sen: Schwar­ze Sicht­fens­ter wür­den gewiss nicht ver­trau­en­er­we­ckend auf die Men­schen in der Umge­bung wir­ken. Trans­pa­ren­te Glä­ser erschei­nen mir Pflicht. Samt roter Sen­de­leuch­te: Bin gera­de live.

Die Welt ist keine Scheibe

Sind das alles fik­ti­ve und nur erdach­te, wenig rea­lis­ti­sche Szenarien?

Wir konn­ten uns auch schon mal nicht vor­stel­len, dass das Wis­sen der Welt auf einer hand­flä­chen­gro­ßen Schrei­be zugäng­lich wird. Und Men­schen mit einer Schei­be in der Hand und star­rem Blick dar­auf durch Fuß­gän­ger­zo­nen laufen.

Oder dass die Welt kei­ne Schei­be ist, ein paar Jahr­hun­der­te zuvor.

Die Ver­mes­sung der Welt 2023 bedeu­tet ein­mal mehr die Vor­stel­lung: Sie ist kei­ne Scheibe.