Videokonferenz mit einem Verdächtigen

Avatar von Marcus Schwarze

Kürzlich nahm ich an einem virtuellen Stammtisch teil. Videokonferenz, drei Dutzend Gleichgesinnte, lockeres Geplauder. Dann entdeckte ich einen verdächtigen Teilnehmer.

„Marcus’s AI Note­ta­ker“ hieß die­ser Teil­neh­mer. Sei­ne Video­ka­me­ra und das Mikro­fon waren aus­ge­schal­tet. Lus­tig, dach­te ich mir, da nutzt also ein ande­rer Teil­neh­mer mit mei­nem Namen das glei­che Kon­fe­renz­pro­to­koll­pro­gramm, das ich vor ein paar Tagen aus­pro­biert hat­te. „tl;dv“ heißt die Soft­ware: Sie klinkt sich in Video­kon­fe­ren­zen ein, zeich­net alles auf, ver­schrift­licht das Gesag­te und fasst die Beschlüs­se zusam­men. Das klapp­te in einem Test mit einem ein­ge­weih­ten Gesprächs­part­ner sehr gut.

Kurzes Handgemenge

In die­sem vir­tu­el­len Stamm­tisch aber galt die Regel: Nichts wird auf­ge­zeich­net. Also the­ma­ti­sier­ten wir „Marcus’s AI Note­ta­ker“ und wur­den uns schnell einig. Der KI-Bur­sche soll­te die Run­de ver­las­sen. Doch schwör­te der ande­re Mar­cus in der Run­de, aus irgend­wo in Nord­deutsch­land, Stein und Bein: Er habe ledig­lich die Unter­ti­telungs­funk­ti­on der Kon­fe­renz­soft­ware Zoom ein­ge­schal­tet. Und tat­säch­lich wur­de alles Gesag­te nahe­zu live vom „Zoom“-Konferenzprogramm ver­tex­tet. Aus­schal­ten ließ sich die Funk­ti­on im Nach­hin­ein nicht mehr. Kur­zes Hand­ge­men­ge mit mir, dem ande­ren Mar­cus aus Koblenz: Das ist eine ande­re KI als die­ser mys­te­riö­se Teilnehmer.

Und plötz­lich ging mir ein Licht auf: Ver­dammt, der KI-Schnüff­ler kam aus mei­nem eige­nen Rech­ner! Hek­ti­sche Maus­be­we­gun­gen, auf dem Mac durch­such­te ich die Ein­stel­lun­gen von „tl;dv“. Doch ließ sich der digi­ta­le Gesel­le nur für künf­ti­ge Video­kon­fe­ren­zen stop­pen, nicht für die lau­fen­de. Auch der Gast­ge­be­rin des KI-Stamm­tischs waren die Hän­de gebun­den: Sie konn­te den unge­wünsch­ten Teil­neh­mer nicht ein­fach aus der Run­de kicken. Denn ein­ge­la­den hat­te jemand anders, der heu­te nicht anwe­send war. Wir waren alle nur Gäs­te an die­sem Tisch, die Admi­nis­tra­ti­on ver­lo­ren gegan­gen oder zumin­dest unauffindbar.

Man spricht anders

So plau­der­ten wir leicht amü­siert wei­ter, nichts war groß geheim. „Wer nichts zu ver­ber­gen hat, hat auch nichts zu befürch­ten“, lau­tet ein geflü­gel­tes Wort; an das ich aller­dings nicht glau­be, Vor­rats­da­ten­spei­che­rung hin, Ver­fas­sungs­ge­richts­ur­tei­le her. So mein­te ich auch hier zu bemer­ken: Man spricht anders unter Beob­ach­tung, und sei es durch eine Maschine.

Tat­säch­lich ließ sich die lau­fen­de Auf­nah­me auch nicht in mei­nem Web­kon­to des KI-Pro­to­kol­lan­ten abstel­len. Mir fiel ein, dass ich ihn mit mei­nem Kalen­der ver­knüpft hat­te, und irgend­wo war ein Haken gesetzt, dass er an „allen“ Tref­fen teil­neh­men soll­te. Wer denkt sich so etwas aus? Rück­wir­kend und fürs lau­fen­de Tref­fen war die Maschi­ne nicht zu stoppen.

Die Katze mischt mit

Tat­säch­lich lie­fer­te der Dienst Sekun­den nach dem Stamm­tisch den Wort­laut alles Gesag­ten. Dazu gehör­ten unse­re Dis­kus­sio­nen über die schein­bar unab­schalt­ba­re Unter­ti­tel­funk­ti­on und den zusätz­lich mit­hö­ren­den KI-Gesel­len sowie Bemer­kun­gen über eine Kat­ze, die bei einer Teil­neh­me­rin über die Tas­ta­tur huschte.

Flugs lösch­te ich die ille­ga­len Auf­zeich­nun­gen, den Wort­laut und die Zusam­men­fas­sung, und stopp­te das Pro­gramm auf mei­nem Rechner.

Als ich Tage spä­ter den Com­pu­ter ein­mal neu star­ten muss­te, war „tl;dv“ wie­der prä­sent. Die Soft­ware muss­te auch aus dem Start­ord­ner mei­nes Macs gelöscht wer­den. Und zusätz­lich war der Zugriff auf mei­nen Kalen­der aus der Ser­ver­soft­ware der Anwen­dung zu entfernen.

Ich habe mich da nun kom­plett gelöscht. Wir sind alle ver­lo­ren, wenn wir die Kon­trol­le über die Maschi­nen verlieren.