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  • Der Primat des Pragmatischen

    Der Primat des Pragmatischen

    Ein fro­hes Oster­fest und erhol­sa­me Feri­en wünscht er uns. Lei­der weiß er auch nicht, wann es denn nun – und wie! – mit dem „Schul­be­trieb“ wei­ter­geht, und zur bes­se­ren Ver­an­schau­li­chung setzt er den „Schul­be­trieb“ in Anfüh­rungs­zei­chen. Alles wäre rein spe­ku­la­tiv. Man sol­le sich auf die Feri­en ein­las­sen und den wei­te­ren Gang der Din­ge so gedul­dig wie irgend mög­lich abwarten.

    Abwar­ten?

    Hun­dert­tau­sen­de haben in den ver­gan­ge­nen Wochen von heu­te auf mor­gen Home­of­fice und selt­sa­me Din­ge wie Mikro­fon-Muten, Pünkt­lich­keit und den andern aus­re­den las­sen gelernt. Klar ruckelt das am Anfang. Auch als neue Außen­stel­le der geschlos­se­nen Schu­le. Da ruft dann schon mal die Klas­sen­leh­re­rin den Vater der Klas­sen­spre­che­rin an, damit die­se in der Whats­App-Grup­pe die E‑Mail-Adres­sen der Mit­schü­ler ein­sam­melt – die Leh­re­rin selbst kann das ja nicht, Sie wis­sen schon: Datenschutz.

    Dass die­sel­ben Schü­ler schon seit einem hal­ben Jahr­zehnt ihre Haus­auf­ga­ben und Lösun­gen per Whats­App tei­len, steht in einem ande­ren Thread.

    Daten­schutz als Ver­neb­ler des Vernünftigen

    Der Daten­schutz ist heu­te der Bru­der im Geis­te des Virus; er ist all­ge­gen­wär­tig und unsicht­bar. Glück­li­cher­wei­se ist der Daten­schutz auch viel weni­ger, er tötet nicht, jeden­falls noch nicht, nach allem, was ich weiß. Er ist aber auch noch mehr: Er ist Ver­hin­de­rer des Prag­ma­ti­schen und sein Gegen­teil. In der Kri­se ist er Ver­neb­ler des Vernünftigen.

    Der Daten­schutz ver­hin­dert, dass erwach­se­ne Men­schen in einer Gehalts­klas­se über uns mei­net­we­gen mit Kra­wat­te über der Jog­ging­ho­se eine Video­kon­fe­renz ein­be­ru­fen und das Nahe­lie­gen­de unter­neh­men: die vor­han­de­ne Tech­nik ziel­füh­rend nutzen.

    • Eine gemein­sa­me Datei­ab­la­ge für die Haus­auf­ga­ben? – Die Drop­box ist nicht datenschutzkonform.
    • Ein gemein­sa­mer Kalen­der für die Schul­stun­den? – Ja, es gibt da eine App, aber die wird nur ille­gal von einem Leh­rer in sei­ner Frei­zeit gepflegt und nur einen Tag im voraus.
    • Ein­heit­li­che E‑Mail-Adres­sen für Leh­rer, Sekre­ta­ri­at, gar die Schü­ler? – Das Gym­na­si­um hat offi­zi­ell eine T‑On­line-Adres­se, Leh­ren­de sen­den ihre Auf­ga­ben mit ihren pri­va­ten GMX- und Web.de-Adressen.

    Erstaunt lei­te ich die ach­te Mail mit Auf­ga­ben an den Nach­wuchs wei­ter, weil sie ent­we­der irr­tüm­lich oder absicht­lich an die Eltern ging statt an die eigent­li­chen Adres­sa­ten. Inter­es­siert über­flie­ge ich hier und da die Adres­sen der ande­ren Eltern, die wie mei­ne im CC-Feld für alle sicht­bar steht. Eigent­lich fehlt nur noch die nächs­te Mail von einem der Eltern, am bes­ten an alle, war­um man das nicht an die Schü­ler direkt schi­cken könne?

    Vie­les ver­liert sei­nen Schrecken

    Krass, wie der Appa­rat die Leh­re­rin­nen und Leh­rer allein lässt. Wie auch ein Schul­lei­ter nicht ein­fach als Kri­sen­ma­na­ger ein paar Din­ge in die Hand neh­men darf oder kann, als gäbe es mit Mood­le und Co. nicht bereits Lern­platt­for­men zum Orga­ni­sie­ren eines Schulbetriebs.

    Ich durf­te an einer Hoch­schu­le mit Mood­le arbei­ten, das war zwar etwas umständ­lich, aber letzt­lich alles an sei­nem Platz. Wenn man in den Fir­men und Insti­tu­tio­nen mit Teams, Zoom, Asa­na, One­Dri­ve, Trel­lo und ande­ren ver­bo­te­nen Tools gear­bei­tet hat, ver­liert vie­les sei­nen Schre­cken. Es bleibt allein: der Schre­cken Datenschutz.

    Statt­des­sen geht in der Schu­le also vie­les per Mail, immer­hin. Unter den Auf­ga­ben an den Nach­wuchs sind rich­tig tol­le. So gilt es, „Baby­lon Ber­lin“ in der Media­thek von ARD und ZDF zu fin­den und anzu­schau­en und in einem Auf­satz die gol­de­nen Zwan­zi­ger des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts zu cha­rak­te­ri­sie­ren. PDFs mit erkenn­ba­rer Lie­be zum Detail machen die Runde.

    Eine vor­läu­fi­ge Umfra­ge unter drei Schü­le­rin­nen im Eltern­ta­xi zum Rei­ten ergab zu Beginn der Schul­schlie­ßun­gen, dass sich 100 Pro­zent der Befrag­ten aufs Home­schoo­ling freu­ten. Man müss­te weni­ger Gela­ber in der Schu­le ertra­gen, könn­te aus­schla­fen und in Jog­ging­ho­se die Auf­ga­ben erle­di­gen, das wür­de viel effektiver.

    Drei Wochen spä­ter ergibt eine vor­läu­fi­ge Ein­schät­zung der Lage bei zwei Schü­lern fol­gen­des Lage­bild: Das mit dem Aus­schla­fen und der Jog­ging­ho­se ist zu 100 Pro­zent ein­ge­tre­ten. Das mit weni­ger Gela­ber hat nicht ganz so geklappt, aus den Kin­der­zim­mern ist nun von vor­mit­tags bis in den Abend Gequat­sche, Geläch­ter und Gejauch­ze ange­sichts diver­ser Erfol­ge, Sie­ge und Nie­der­la­gen in Grup­pen auf Dis­cord und Co. zu vernehmen.

    Es mag nicht immer um Din­ge wie die drit­te Ablei­tung einer Cosi­nus­for­mel gehen oder die nega­ti­ve media­le Rezi­pi­enz der log­arith­mi­schen Dar­stel­lung einer Infek­ti­ons­kur­ve, aber was weiß ich schon. (Daten­schutz.)

    Den Abga­be­schluss lernen

    Dass aber auf einem Frei­tag oder Sams­tag auch um 21 Uhr noch Bio und Erd­kun­de erle­digt wer­den, der Abga­be­schluss naht schließ­lich zu unchrist­li­cher Zeit – das war vor Coro­na selten.

    Selbst die ver­zwick­tes­te und grau­sams­te ethi­sche Fra­ge unse­rer Zeit, die auch eine Mar­got Käß­mann in einer Talk­show nicht beant­wor­ten kann, wird von Schü­lern anno März 2020 schon mal in einem vier­sei­ti­gen eng linier­ten Doku­ment hand­be­schrie­ben erör­tert, um 21.55 Uhr beim zustän­di­gen Eltern­teil mit dem Scan­ge­rät am Rech­ner auf den Weg gebracht, Abga­be­schluss ist um 22 Uhr: „Wie sol­len sich Ärz­te mit drei Beatmungs­ge­rä­ten und drei schwer erkrank­ten Pati­en­ten ver­hal­ten, wenn der vier­te Pati­ent her­ein­ge­scho­ben wird?“

    Cha­peau, lie­be enga­gier­ten Leh­re­rin­nen und Lehrer.

    So scan­ne ich also um 22.05 Uhr die vier Sei­ten ein. Wegen der Bequem­lich­keit nut­ze ich für den Mail­ver­sand an den Nach­wuchs eine die­ser umstrit­te­nen US-ame­ri­ka­ni­schen Clouds. Für die Ver­zö­ge­rung han­de­le ich mir einen Rüf­fel vom Nach­wuchs ein, es war halt wirk­lich inter­es­sant zu lesen. Und Zack, geht die Mail mit den sehr per­sön­li­chen ethi­schen Ansich­ten eines 17-Jäh­ri­gen über einen Ser­ver von Goog­le Mail ins Post­fach des Leh­rers bei GMX-T-Online-Webde-oder-was-weiß-ich.

    Machen wir uns nichts vor: Ein Stück weit sind das auch Erfah­run­gen von Pri­vi­le­gier­ten, viel­leicht ein wenig ver­gnüg­lich in schlim­mer Zeit. Nicht jeder hat ein Lap­top oder Tablet zur Ver­fü­gung. In Haus­hal­ten mit meh­re­ren Kin­dern wird es eng und ange­spannt, wenn auch die Eltern gera­de Home­of­fice ler­nen. Und nach der drit­ten Video- oder Tele­fon­kon­fe­renz mit schwer ver­nehm­ba­ren Teil­neh­mern, absei­ti­gen Video­clips zur Unter­hal­tung und unkla­rer Tages­ord­nung ver­ste­he ich jeden Leh­rer, der sagt: Das Digi­ta­le ist anstrengend.

    Der nord­rhein-west­fä­li­sche Minis­ter Lau­mann sag­te neu­lich: „Wer von den Minis­tern, die für Beschaf­fung zustän­dig sind, nach der Kri­se nicht den Lan­des­rech­nungs­hof am Arsch hat, der hat alles ver­kehrt gemacht.“ Da ging es um Mundschutzmasken.

    Es gilt das Pri­mat des Pragmatischen.

    Wer von den Leh­rern und Schul­lei­tern, die für Unter­richt zustän­dig sind, nach den Feri­en nicht den Lan­des­da­ten­schutz im Nacken hat, der hat alles ver­kehrt gemacht.

    Mit den Wor­ten des Schul­lei­ters: Ich wür­de das abwarten.

    P.S.: In einem rich­ti­gen Sowohl-als-auch-Kom­men­tar läsen Sie jetzt noch, war­um Daten­schutz natür­lich wich­tig ist, zumin­dest an der rich­ti­gen Stel­le und in der rich­ti­gen Dosie­rung. Der Pri­mat des Prag­ma­ti­schen aber sagt: Jetzt nicht, jeden­falls nicht hier, und wenn schon, dann als P.S. Fro­he Ostern!