Der Elternbrief

Vor drei Wochen begann die vermutlich größte Krise unserer Generation. Das Virus verbreitete sich in der Welt, Firmen und Institutionen wurden geschlossen. Staaten sind im Lockdown. Und jetzt schrieb mir der Schulleiter des Gymnasiums der Kinder einen Elternbrief.

Ein frohes Osterfest und erholsame Ferien wünscht er uns. Leider weiß er auch nicht, wann es denn nun – und wie! – mit dem „Schulbetrieb“ weitergeht, und zur besseren Veranschaulichung setzt er den „Schulbetrieb“ in Anführungszeichen. Alles wäre rein spekulativ. Man solle sich auf die Ferien einlassen und den weiteren Gang der Dinge so geduldig wie irgend möglich abwarten.

Abwarten?

Hunderttausende haben in den vergangenen Wochen von heute auf morgen Homeoffice und seltsame Dinge wie Mikrofon-Muten, Pünktlichkeit und den andern ausreden lassen gelernt. Klar ruckelt das am Anfang. Auch als neue Außenstelle der geschlossenen Schule. Da ruft dann schon mal die Klassenlehrerin den Vater der Klassensprecherin an, damit diese in der WhatsApp-Gruppe die E-Mail-Adressen der Mitschüler einsammelt – die Lehrerin selbst kann das ja nicht, Sie wissen schon: Datenschutz.

Dass dieselben Schüler schon seit einem halben Jahrzehnt ihre Hausaufgaben und Lösungen per WhatsApp teilen, steht in einem anderen Thread.

Datenschutz als Vernebler des Vernünftigen

Der Datenschutz ist heute der Bruder im Geiste des Virus; er ist allgegenwärtig und unsichtbar. Glücklicherweise ist der Datenschutz auch viel weniger, er tötet nicht, jedenfalls noch nicht, nach allem, was ich weiß. Er ist aber auch noch mehr: Er ist Verhinderer des Pragmatischen und sein Gegenteil. In der Krise ist er Vernebler des Vernünftigen.

Der Datenschutz verhindert, dass erwachsene Menschen in einer Gehaltsklasse über uns meinetwegen mit Krawatte über der Jogginghose eine Videokonferenz einberufen und das Naheliegende unternehmen: die vorhandene Technik zielführend nutzen.

Eine gemeinsame Dateiablage für die Hausaufgaben? – Die Dropbox ist nicht datenschutzkonform.

Ein gemeinsamer Kalender für die Schulstunden? – Ja, es gibt da eine App, aber die wird nur illegal von einem Lehrer in seiner Freizeit gepflegt und nur einen Tag im voraus.

Einheitliche E-Mail-Adressen für Lehrer, Sekretariat, gar die Schüler? – Das Gymnasium hat offiziell eine T-Online-Adresse, Lehrende senden ihre Aufgaben mit ihren privaten GMX- und Web.de-Adressen.

Erstaunt leite ich die achte Mail mit Aufgaben an den Nachwuchs weiter, weil sie entweder irrtümlich oder absichtlich an die Eltern ging statt an die eigentlichen Adressaten. Interessiert überfliege ich hier und da die Adressen der anderen Eltern, die wie meine im CC-Feld für alle sichtbar steht. Eigentlich fehlt nur noch die nächste Mail von einem der Eltern, am besten an alle, warum man das nicht an die Schüler direkt schicken könne?

Vieles verliert seinen Schrecken

Krass, wie der Apparat die Lehrerinnen und Lehrer allein lässt. Wie auch ein Schulleiter nicht einfach als Krisenmanager ein paar Dinge in die Hand nehmen darf oder kann, als gäbe es mit Moodle und Co. nicht bereits Lernplattformen zum Organisieren eines Schulbetriebs.

Ich durfte an einer Hochschule mit Moodle arbeiten, das war zwar etwas umständlich, aber letztlich alles an seinem Platz. Wenn man in den Firmen und Institutionen mit Teams, Zoom, Asana, OneDrive, Trello und anderen verbotenen Tools gearbeitet hat, verliert vieles seinen Schrecken. Es bleibt allein: der Schrecken Datenschutz.

Stattdessen geht in der Schule also vieles per Mail, immerhin. Unter den Aufgaben an den Nachwuchs sind richtig tolle. So gilt es, „Babylon Berlin“ in der Mediathek von ARD und ZDF zu finden und anzuschauen und in einem Aufsatz die goldenen Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts zu charakterisieren. PDFs mit erkennbarer Liebe zum Detail machen die Runde.

Eine vorläufige Umfrage unter drei Schülerinnen im Elterntaxi zum Reiten ergab zu Beginn der Schulschließungen, dass sich 100 Prozent der Befragten aufs Homeschooling freuten. Man müsste weniger Gelaber in der Schule ertragen, könnte ausschlafen und in Jogginghose die Aufgaben erledigen, das würde viel effektiver.

Drei Wochen später ergibt eine vorläufige Einschätzung der Lage bei zwei Schülern folgendes Lagebild: Das mit dem Ausschlafen und der Jogginghose ist zu 100 Prozent eingetreten. Das mit weniger Gelaber hat nicht ganz so geklappt, aus den Kinderzimmern ist nun von vormittags bis in den Abend Gequatsche, Gelächter und Gejauchze angesichts diverser Erfolge, Siege und Niederlagen in Gruppen auf Discord und Co. zu vernehmen.

Es mag nicht immer um Dinge wie die dritte Ableitung einer Cosinusformel gehen oder die negative mediale Rezipienz der logarithmischen Darstellung einer Infektionskurve, aber was weiß ich schon. (Datenschutz.)

Den Abgabeschluss lernen

Dass aber auf einem Freitag oder Samstag auch um 21 Uhr noch Bio und Erdkunde erledigt werden, der Abgabeschluss naht schließlich zu unchristlicher Zeit – das war vor Corona selten.

Selbst die verzwickteste und grausamste ethische Frage unserer Zeit, die auch eine Margot Käßmann in einer Talkshow nicht beantworten kann, wird von Schülern anno März 2020 schon mal in einem vierseitigen eng linierten Dokument handbeschrieben erörtert, um 21.55 Uhr beim zuständigen Elternteil mit dem Scangerät am Rechner auf den Weg gebracht, Abgabeschluss ist um 22 Uhr: „Wie sollen sich Ärzte mit drei Beatmungsgeräten und drei schwer erkrankten Patienten verhalten, wenn der vierte Patient hereingeschoben wird?“

Chapeau, liebe engagierten Lehrerinnen und Lehrer.

So scanne ich also um 22.05 Uhr die vier Seiten ein. Wegen der Bequemlichkeit nutze ich für den Mailversand an den Nachwuchs eine dieser umstrittenen US-amerikanischen Clouds. Für die Verzögerung handele ich mir einen Rüffel vom Nachwuchs ein, es war halt wirklich interessant zu lesen. Und Zack, geht die Mail mit den sehr persönlichen ethischen Ansichten eines 17-Jährigen über einen Server von Google Mail ins Postfach des Lehrers bei GMX-T-Online-Webde-oder-was-weiß-ich.

Machen wir uns nichts vor: Ein Stück weit sind das auch Erfahrungen von Privilegierten, vielleicht ein wenig vergnüglich in schlimmer Zeit. Nicht jeder hat ein Laptop oder Tablet zur Verfügung. In Haushalten mit mehreren Kindern wird es eng und angespannt, wenn auch die Eltern gerade Homeoffice lernen. Und nach der dritten Video- oder Telefonkonferenz mit schwer vernehmbaren Teilnehmern, abseitigen Videoclips zur Unterhaltung und unklarer Tagesordnung verstehe ich jeden Lehrer, der sagt: Das Digitale ist anstrengend.

Der nordrhein-westfälische Minister Laumann sagte neulich: „Wer von den Ministern, die für Beschaffung zuständig sind, nach der Krise nicht den Landesrechnungshof am Arsch hat, der hat alles verkehrt gemacht.“ Da ging es um Mundschutzmasken.

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